Dienstag, 12. Juni 2007

Werkstatt: Schnecken-Variationen

Schlaflos diese Nacht
gewandert - so sieht es aus -
eine Schnecke

Heute früh zu sehen:
Die Wege der ganzen Nacht -
eine Schnecke

Tan Taigi (1709-1771)


Diese Haiku sind in der sehr empfehlenswerten Sammlung von Ekkehard May: CHÛKÔ - Die neue Blüte, Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung, erschienen. Sie haben mich veranlasst, Variationen zum Thema zu schreiben. Zumal ich die Schneckenspuren jeden Morgen vor der Haustür sehe. Da aber die Schnecken auch erheblichen Schaden im Garten anrichten, assoziierte ich nicht nur die Schleimspuren, sondern auch die Fraßspuren der Schnecken.




Vor der Eingangstür
die ganze Nacht unterwegs-
Schnecken



Die Räuberbande
hinterließ Spuren -
Schnecken im Garten



Räuber in der Nacht
hinterlassen ihre Spur -
Schnecken im Garten



Nächtlicher Diebe Spur - Schnecken

Spuren nächtlicher Räuber - Schnecken


Diese letzten Varianten mögen irritieren. Ich stelle sie mir als mit raschen Tuschelinien gemalt vor. Das Schriftbild imitiert die Schleimspur der Schnecke. Dazu das Bild einer Schnecke an einem Blütenblatt.

Japanische Haiku sind nicht in drei Reihen untereinander geschrieben, sondern in einem Satz. Die japanischen Laute entsprechen auch nicht unseren Silben. Ein deutschsprachiges Haiku müsste demnach eher weniger als 17 Silben lang sein. Das starre Festhalten am 17-Silben-Schema beruht eigentlich auf einem Missverständnis. Letztendlich ist der mit den Mitteln der Sprache erzielte Ausdruck entscheidend. Die Schönheit eines Verses ist nicht von der Silbenzahl abhängig. Wer das Haiku zuerst auf seine angebliche Korrektheit überprüft und die Silben nachzählt, versperrt sich selbst den Zugang zur Schönheit der Sprache. Achten Sie auf den Klang, den Rhythmus, die Melodie, die Bilder, die in Ihnen entstehen, wenn Sie ein Haiku lesen.





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